Begegnungen zwischen Deutschen und Israelis

Die Geschichte des Kibbuz

Menschen und Schicksale

„Emil, aus Posen"

Der frühere Volontärsleiter hat mich zum gemeinsamen Abendbrot eingeladen. Ich nutze die Gunst der Stunde und befrage ihn über die Geschichte des Kibbuz Kinnereth.
In der kleinen, aber gepflegten und gut sortierten Bücherei des Kibbuz hatte ich mir bereits einen Bildband ausgeliehen, der die Geschichte des Kibbuz in eindrucksvollen Fotos dokumentiert, begleitet von den bukolischen Versen der Dichterin Kachel Bloustein (oder Bluwstein), die, 1890 in Rußland geboren, u.a. in Kinnereth als Kindergärtnerin gearbeitet hat. Moshe Dayan errichtete ihr in seinem Buch „Leben mit der Bibel" (1) ein Denkmal.
Ihr Grab liegt allerdings nicht in Nahalal, wie Dayan schreibt, sondern bei einem kleinen Friedhof, nur zehn Minuten Fußweg vom Kibbuz Kinnereth entfernt. Kachel gehörte zu den eindrucksvollsten Gründerpersönlichkeiten des Kibbuz Deganya (2) (der „Mutter aller Kibbuzim") und starb 1931, erst 41 Jahre alt, an Tuberkulose. Wie viele Chaluzim (hebr. Pioniere) litt auch sie am damals noch malariaverseuchten Klima der Jordanebene (erst 1961 konnte die Regierung nach der Trockenlegung des Hulesees stolz melden, daß alle Malariaerreger (3) im Land ausgerottet seien).

Nach Deganya A, der Muttersiedlung, folgten andere Kibbuzim. Kinnereth, ein Meilenstein in der modernen jüdischen Arbeiterbewegung, hatte seinen Ursprung in einer landwirtschaftlichen Ausbildungsfarm, die 1908 nahe dem Standort des heutigen Kibbuz gegründet wurde. Von hier aus wurden die frühen Kibbuzim im Jesreel-Tal ins Leben gerufen, 1913 wurde die Ausbildungsfarm von den Arbeitern übernommen und als Kibbuz reorganisiert. 1929 zog die Gemeinschaft an ihren heutigen Ort, westlich vom ursprünglichen.

David erzählt mir noch etwas: dass es im Kibbuz Menschen gibt, die beim Klang deutscher Wörter erschrecken. Die Umgangssprache ist Englisch - zu meinem Bedauern; ich hätte gern weiter Hebräisch gelernt. In meiner Gruppe sind auch zwei Mädchen aus Wien. Eine alte Dame spricht mich eines Tages an: „Sind Sie das Mädchen aus Wien?" Ich verneine und erkläre ihr, daß ich aus Deutschland käme. „Ach, der schöne Prater! Und der Stephansdom! Zehn Zungen müßte ich haben, um mein Leben zu berichten. Aber ich habe nur ein Leben."
Ich erfahre, dass sie eine Vertriebene ist. Und dass sie eigens nach Yad Vashem gegangen ist, wo man ihren Lebensbericht per Video aufgezeichnet hat. Es gibt keinen Vorwurf, auch keinen Hass auf Deutsche: nur Trauer und Schmerz über das gewaltsam Entrissene.

Ich erinnere mich an eine Tour mit einer deutschen Wandergruppe, neun Jahre zuvor: angesichts von Yad Vashem hatte da eine junge Frau gesagt: „Ich lasse mich doch nicht von den Juden emotional erpressen." Ist das alles, was der Ort des Gedenkens für die Deutschen bedeutet?

Die Stimme des weißhaarigen Mannes neben mir ist melancholisch, voller Trauer: „Ich kenne Ihre Sprache. Ich komme aus Posen. Ich bin Emil", stellt er sich vor, als wir zusammen losfahren, um die jungen Bananenstauden zu pflanzen. Er hatte gehört, daß ich mit den Mädchen aus Wien gesprochen hatte.
Während der Arbeit suche ich Emils Nähe; ich möchte mehr über ihn erfahren, über das, was er in seinem langen Leben erlebt hat. Leider werde ich einer anderen Arbeitsgruppe zugeteilt. So erfahre ich nichts mehr über Emil aus Posen mit der traurigen Stimme. Die Trauer über einen offenbar heillosen Verlust, war sie am Ende doch größer als der Trost durch den Gewinn eines jüdischen Staates, einer neuen Zugehörigkeit? Auch dies hätte ich den alten Mann gern gefragt.