Unterrichten an bolivianischer Schule

Erste Unterrichtswochen

Erfahrungswerte beim Unterrichten in Bolivien

Wie der Lehrer zum Schüler wurde

In den folgenden Wochen habe ich vor allem gelernt, dass Unterrichten immer ein Erfahrungsaustausch und niemals einseitig ist. Fast möchte ich behaupten, dass meine Schüler mir mehr beibringen als ich ihnen.
So habe ich mit den Schülern der ersten und zweiten Klasse in „Lectoescritura“ zunächst begonnen, stur kurze Texte zu diktieren, um anschließend die Fehler zu korrigieren. Natürlich haben sich die Kinder bei den zweistündigen Unterrichtseinheiten irgendwann zu Tode gelangweilt und sich auf Wanderschaft durch das Klassenzimmer (oder aus diesem hinaus) begeben, die Belastbarkeit der Gardinenstangen durch Benutzen der Gardinen als Kletterseile getestet und sich gegenseitig die Bleistiftminen abgebrochen. Irgendwann fragte mich dann mal einer meiner „enanos“ (Zwerge), warum ich denn nicht richtig sprechen könne (!) und ich habe daraufhin angefangen, ihnen über Deutschland, Schnee, das Salzwasser des atlantischen Ozeans und meine Flugreise nach Bolivien zu erzählen. Die Kinder waren völlig begeistert von der Tatsache, dass ich in einem echten Flugzeug „como un pájaro“ (wie ein Vogel) geflogen und nicht vom Himmel gefallen bin, und haben sich dann mit ebenso großer Begeisterung daran gemacht, Flugzeuge, Ozeane und Vögel in ihre Hefte zu zeichnen und mir dazu die Wörter aufzuschreiben. Sogar einige Kinder, die ich schon fast als Analphabeten abstempeln wollte, fingen auf einmal an, ihre Bilder zu beschriften, wenn auch mit drei Rechtschreibfehlern pro Wort. So habe ich dann in den folgenden Tagen versucht, in jeder Stunde eine kleine Anekdote oder Geschichte zu erzählen, und davon ausgehend dann Rechtschreibregeln mit den Jüngeren und Grammatik mit den Älteren zu erarbeiten. Als das absolute Lieblingsmärchen aller Schüler hat sich „El lobo y los siete cabritos“ (Der Wolf und die sieben Geißlein) von den Gebrüdern Grimm herausgestellt, deren Märchenbuch ich mir in Deutschland auf Spanisch besorgt hatte. So wissen die Kleinen jetzt, dass man „lobo“ (Wolf) und „cabrito“ (Geißlein) mit „b“ (im Spanischen klingen die Buchstaben b und v gleich und den Kindern fällt es sehr schwer, diese im Schriftlichen zu unterscheiden) geschrieben wird, und die Älteren haben die vorkommenden Vergangenheitsformen der Verben gelernt.
Die Kinder haben übrigens kein Problem damit, meine im Spanischen bisweilen etwas unbeholfenen Erklärungen zu korrigieren („Profe, esto no se dice“ – Lehrerin, das sagt man so nicht) oder auch schon mal laut loszulachen, wenn ich allzu lustige Fehler mache. Gerade in diesem Punkt musste ich lernen, mit den Kindern zu lachen, anstatt eine ernste Mine aufzusetzen und die strenge Lehrerin zu spielen. Die Kinder reagieren sehr spontan und direkt, und mich hat es einige Zeit gekostet, um zu verstehen, dass diese Aufrichtigkeit nicht bösartig sondern vertraulich gemeint ist. Natürlich muss ich die Kinder ab und zu zurechtweisen, wenn eines schon zum fünften Mal darum bittet, auf Toilette gehen zu dürfen; aber ebenso wichtig ist es, auf ihre Reaktionen einzugehen.
So fühle ich mich nach und nach in meiner Rolle als „profe“ (Lehrerin) schon etwas sicherer, auch wenn der Spagat zwischen Lehrerautorität einerseits und freundschaftlichem Verhalten andererseits sicherlich noch zu verbessern ist; „poco a poco“ (nach und nach/ ein Schritt nach dem anderen) – wie die Leute hier zu sagen pflegen.

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