Als Freiwilliger in den Vereinigten Staaten
Sozialarbeit in Chicago
Krankenpflege im Amerika
Wie schnell Tage, Wochen und Monate vergehen! Doch zur gleichen Zeit bin ich immer wieder davon fasziniert, wie viele wunderschöne Freundschaften und intensive Momente voller Lachen und Freude ich hier in den letzten 15 Monaten erleben durfte!
Es steht mir noch klar vor Augen, wie ich zu Anfang versuchte, mir all die kleinen Handgriffe zu merken, damit die Windel auch wirklich letztlich zu schließen war, und mich an die präzisen Körperteilbezeichnungen zu gewöhnen, etwas unbeholfen zwischen den umgangssprachlichen Wörtern der Gäste und den medizinischen Begriffen der Krankenschwestern herumstolpernd. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, einem Menschen plötzlich so nahe zu sein, den ich nie zuvor getroffen hatte – besonders in einer Situation, in der überwältigende Gefühle im Hinblick auf Tod und den Kampf gegen die Krankheit die Luft füllen: Hatte ich das Recht, ihm einfach so nahe zu treten und meinen chaotischen Empfindungen Ausdruck zu verleihen?
Die Krankenpflege bot mir einen willkommenen Weg, mein Mitgefühl zu zeigen, ohne mich auf Worte, eine zu wacklige Krücke, stützen zu müssen. Viel Wesentliches wurde meinerseits nicht in Worte gekleidet, sondern fand nun seinen Ausdruck in Berührung, Gesten, Zärtlichkeit und Umsorgung. Die Worte eines Gastes hingegen erhielten ein anderes Gewicht, und scheinbar belanglose Bemerkungen gewannen große Bedeutung.
Eine Anforderung des Lebens hier bedeutet, eigene Ängste vor Tod, Verlust und Schmerz zu überwinden. Beruf, materieller Status, Aussehen oder Freizeitbeschäftigungen verlieren dabei ihre übliche, von der Gesellschaft zugeordnete Bedeutung. Plötzlich wurde mein Leben auf viel tiefer reichenden Ebenen durch eine erschütternde Stimme in Frage gestellt:
Aids zwingt Menschen dazu, den Wert ihrer Existenz zu benennen, und dieser kritische Blick berührte auch mich. Wie viele unbewusste und verletzliche Stellen bergen wir in uns! Wohl jeder Mensch versucht, sich eine Illusion von Macht und Einfluss über sein Leben aufrecht zu erhalten, doch wie dünn ist diese Schneide zwischen der Existenz in dieser Welt und dem Zustand nach unserem Leben! Nur einen letzten Atemzug entfernt und nur durch die Funktion eines sehr verletzlichen Körpers aufrechterhalten. Für mich wurde sichtbar, wie nahe sich jeder von uns am Abgrund bewegt. Trotzdem eine Balance in sich zu tragen, die uns vertrauensvoll sein lässt und über die gegenwärtige Situation hinausreicht, gibt Kraft, die hier spürbar wurde.
Es war schwierig, diese inneren Gefühle und Gedanken zuzulassen, und doch lag in ihnen auch der Schlüssel zu einer angstfreien Begegnung mit Sterben und Tod. Das Leben scheint die Medizin für die Unsicherheiten dieser Welt in sich zu tragen, in seinen Möglichkeiten und Freuden, die wir zu genießen eingeladen sind. Tatsächlich erscheint mir jeder Tag seitdem wertvoller als je zuvor, weil er nicht mehr klein gegenüber Jahren und Jahrzehnten erscheint, sondern nur an Wochen und Monaten gemessen wird. Dann wird ein neuer Morgen zum Geschenk, welches das Leben, oder sollte ich besser sagen „Gott“, wieder und wieder für uns bereithält, ein erneutes Angebot, mit anderen zu sein, von dem wir nicht wissen, wie viele noch kommen werden.
... Seit einigen Stunden bin ich von einem sehr schwierigen Besuch zurück. Ein Gast ist nach mehreren Krankenhausaufenthalten nun auf die Intensivstation verlegt worden. Es fiel mir fast schwer, ihn als den Menschen wiederzuerkennen, der hier vor einigen Monaten mit einem strahlenden Lächeln eingezogen war. An Maschinen und Behältern mit verschiedenen Flüssigkeiten angeschlossen, hängen Kabel und Schläuche unter seiner Bettdecke hervor. Dieser Raum, diese Welt erscheint mir unwirklich und unmenschlich. Keine Spur von dem Frieden und der Ruhe, die ich bei St. Catherine of Genoa erlebe. Ich hoffe, er kehrt bald nach Hause zurück ...
Maren-Anneke
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