Freiwilliger in südafrikanischem Kinderheim

Freiwilligendienst Südafrika

Als Freiwilliger in Durban

Freiwilligeneinsatz im Kinderheim

Müde hebt Andile seinen kleinen Kopf und schiebt den Pappkarton von sich weg. Seine dunklen Augen blinzeln an mir vorbei in die Morgensonne. "Unjani umfuetu?" wiederhole ich. Der Junge weicht meinem Blick aus und haucht der Sonne hinter mir ein trockenes "Ngiyaphila" zu während er sich mit einer Hand tastend vergewissert, das seine alte mit Klebstoff aufgefüllte Milchtüte in der Nacht nicht den Besitzer gewechselt hat. Eigentlich sind wir nicht wegen Andile hier, sondern weil wir Siyanda suchen. "Sifuna uSiyanda, likuphi yena?". "Ubani?" - Sackgasse.
Unter den 800 Straßenkindern in Durban, Südafrika gibt es bestimmt zwanzig Siyandas und von keinem kenne ich den Nachnahmen. "uNcane" versuche ich mir zu behelfen, "der Kleine". "Eish, angazi lapho elala khona!" - "Ich hab keine Ahnung wo der schläft." übersetze ich mir langsam; mein Zulu ist immer noch an vielen Stellen dürftig.
Uns wird klar, dass wir auf der Strandpromenade nicht weiter kommen und verabschieden uns - "Kulungile, siyabonga". Andile murmelt etwas und nimmt einen tiefen Zug aus der Milchtüte, um zu vergessen, wie hart der Boden war, auf dem er heute Nacht geschlafen hat, um zu vergessen, dass sein Frühstück von der Großzügigkeit der rostenden Mülltonnen abhängt, und letztlich, weil es fast alle tun.

Der Junge lebt wie Siyanda und viele ihrer Freunde schon seit einigen Jahren auf der Straße. Beide sind sie erst 12 Jahre alt, und beide haben sie ihre Väter verloren, bevor sie ihr erstes Lebensjahr vollendet hatten. Andiles Mutter hatte nach einiger Zeit einen neuen Freund, der aber von ihren Kinder nichts wissen wollte. Siyanda ist bei seiner "uGogo" aufgewachsen, seiner Oma. Wir teilen uns auf: Thando und Sosha suchen im "Tong Lok", Snoops und ich laufen zu den "Containern". Ich bin ganz dankbar für diese Aufteilung; das verfallene Tong Lok an Durbans meistfrequentiertem Straßenstrich gehört zu den letzten Orten, wo man ein Straßenkind suchen möchte.
Snoops war selbst einmal ein Straßenkind, jetzt arbeitet er wie auch Thando, Sosha und ich für das Street-Team der einer NGO. Nur dass die anderen fest angestellt sind - ich bin dort durch meinen "FSJ im Ausland" als Freiwilliger hingelangt. Die "Container", das ist die neue von der Stadtverwaltung eingerichtete Anlauf- und Verzeichnisstelle für Straßenkinder. Immer wieder mal werden Kinder nachts von der Polizei eingesackt und in staatliche Kinderheime gebracht - der kalten Brutalität der Straße stehen sie nur wenig nach - insbesondere vor Touristenattraktoren wie dem alljährlichen "Indaba"-Festival.

Es ist der 13. Juni; genau neun Monate, nachdem ich in Johannesburg, aus Frankfurt kommend, das Flugzeug verließ und erstmals die schwüle afrikanische Luft atmete.
Einen Tag zuvor noch war ich zum letztenmal in der Mainmetropole mit meiner Freundin Pizzaessen; eine Woche davor habe ich mich in Bielefeld von Familie und Freunden verabschiedet.
Noch ein dreiviertel Jahr früher hat alles angefangen: Auf einem Auswahlseminar meines späteren Trägers in der Odenwaldschule. Inzwischen gehört er mit knapp 60 Projektstellen weltweit zu den größten Trägern des FSJiA Deutschlands und ist ohne eine Stiftung, Kirche oder Partei im Rücken eine der wenigen wirklich unabhängigen Trägerorganisationen - damals war der sympathische Verein noch jung; ich sollte zu der ersten Generation an Auslandsfreiwilligen gehören. Unter dem Leitspruch "Miteinander Leben - Voneinander Lernen" wurden wir einige Monate später auf einem zweiwöchigen Seminar intensiv vorbereitet; heute, drei Jahre später, leite ich selbst Workshops auf den Vorbereitungsseminaren und versuche die teils mühsam gewonnenen Erfahrungen zu teilen.

"Eish, Nkosinathi, ich würde da nicht arbeiten wollen, nie!" Die füllige "Küchenmama" steht neben mir und schneidet das labbrige Weißbrot, während ich die geschnittenen Scheiben mit Butter bestreiche und mechanisch abwechselnd mit Käse und Fleischwurst belege. Während wir im "Shelter", im Kinderheim von meiner Einsatzstelle das Abendbrot für die rund 25 Kinder vorbereiten, berichte ich von Siyanda, erzähle, dass wir wir ihn den halben Tag gesucht haben, um dann über einige Ecken herauszufinden, dass er zu einem Großonkel in Ohlange gelaufen ist. Morgen würde ich mit dem Street-Team in das ehemalige Township fahren, um sicherzugehen, dass es dem Jungen gut geht und er dort ein neues Zuhause finden kann. Eigentlich haben wir ihm einen Platz im Shelter angeboten. Einen Tag davor sollte er beim Büro des Street-Teams vorbeischauen, damit wir ihn hinfahren können - aber aufgetaucht ist er dann nicht. Dass er selbstständig zu seiner Familie zurückgekehrt ist, bleibt wohl ein Ausnahmefall, wenn auch ein angenehmer.
"Weißt du, vor zehn Jahren war die Point Road noch eine riesige Party", fährt Auntie Thoko fort, "jetzt gibt´s da nur noch Kleinkriminelle." Mit einer Kopfbewegung deute ich einem der Kinder an, mit der Handglocke zum Essen zu rufen. Ein paar Momente später kommen die Jungen von der Fußballwiese angerannt. Thoko schickt sie mit strengem Blick gleich weiter zum Waschraum, nur eines der Kinder kommt zu mir gehumpelt; denn in der Hektik hat es sich den nackten Fuß an einem Stein geschnitten. Ich ziehe zwei Einweghandschuhe aus dem Karton und verbinde die Wunde, während der tapfere Kicker mir von dem Spiel erzählt. AIDS ist ein heikles Thema in Südafrika und Prävention sollte schnell zur Routine werden. Wir wissen nicht, welches der Kinder mit dem HI-Virus infiziert sind, rein statistisch ist es mindestens jedes zweite; bei den älteren sind´s zwei von dreien.

Die eine Hälfte der Woche arbeite ich in dem Shelter, zwei bis drei Tage in der Woche fahre ich in die Stadt zum Street-Team und arbeite mit den Kindern auf der Straße. Im Shelter helfe ich der Lehrerin morgens beim Unterricht in dem angeschlossenen Klassenraum. Obwohl wir versuchen, die Kinder so bald wie möglich wieder auf eine staatliche Schule zu bringen, haben viele Defizite, die nur durch intensiven Unterricht in den Kernfächern ausgeglichen werden. Ich erkläre den Dreisatz, das Past Tense im Englischen; wir malen die heimische Fauna mit Wasserfarben und pflanzen Süßkartoffeln im Garten an.
Im Gegenzug bringen mir die Kinder Zulu bei, lehren mich Grenadillas zu essen, ohne sich unfreiwillig mit dem süßen Saft zu besudeln und zeigen mir, wie man Hühnchen schlachtet und ausnimmt. Vielmehr aber lerne ich von den Kindern, die Unabänderlichkeiten des Lebens zu akzeptieren und sonst verschwendete Energie darauf zu verwenden, mit aller Kraft am Leben festzuhalten - und das ist die wohl wertvollste Erfahrung, die ich in diesem Jahr gewinnen konnte. Während des einjährigen Aufenthalts der Jungs im Shelter versuchen die Sozialarbeiter Kontakt mit den Familien aufzunehmen, die Heranwachsenden in tägliche Routine und Gemeinschaftsleben zu integrieren und sie schließlich mit den Familien wieder zusammenzuführen. Auch danach werden die Familien regelmäßig von uns besucht. Bei den Fällen, wo es einfach keine Familie mehr gibt, zu der sie zurückkehren könnten, haben wir eine betreute WG eingerichtet, in der die Jugendlichen leben können, bis sie auf eigenen Füßen stehen.

Sicher, die Arbeit ist nicht immer einfach. Vielleicht ist es Trotz, vielleicht Irrationalität, die von der Kapitulation vor der Hilflosigkeit abhält, ja, es ist nur eine handvoll Kinder, denen man tatsächlich die Chance geben kann, wieder wie Kinder aufzuwachsen. Ja. nicht wenige werden auf die Straße zurückkehren. Die überwältigende Mehrheit wird nicht älter als dreißig Jahre werden und vorher an AIDS, Gewalt oder Drogen sterben, in dieser Reihenfolge. Volksweisheiten von Tropfen und Steinen wirken höchstens noch albern, und die an dem Verstand zehrenden Fragen nach dem Sinn der eigenen Anstrengungen plazieren sich unmittelbar hinter den täglichen Entscheidungen, die mit dem Gewissen zu vereinbaren nur ein Wahnsinniger in der Lage sein könnte.
Aber dann gibt es da Lwazi, der sich wünscht, dass ich sein Vater werden könnte, an seines Vaters statt. Und Sakhile, der mir beim Unkrautjäten erklärte, warum Gott in der Sonne sein müsse, die jeden Morgen die Welt zum Leben erweckte - er ist Klassenbester und möchte später Lehrer werden. Vor einem halben Jahr hat er noch in Mülltonnen graben müssen. Und die vielen Kinder, die sich wieder mit ihren Familien versöhnten oder eine neue Familie gefunden haben. Steckt nicht in jedem dieser Kinder eine Welt, für die es sich zu kämpfen lohnt?

Manuel Ebert hat als mit Kindern auf der Straße und im Kinderheim gearbeitet. Inzwischen studiert er in Osnabrück und Birmingham Cognitive Science.

Länder: 

Stichwörter: